Oder: Warum ein einziger Glaubenssatz uns komplett beeinflussen und blockieren kann.
Über das Thema Hochsensibilität und hochsensible Menschen ist bereits viel und genügend geschrieben worden. Mir geht es hier nicht darum, das alles noch einmal neu zusammenzufassen, denn letztlich sind die Ausprägungen immer individuell und nicht in eine Schublade zu packen. Ich möchte aber meine Erfahrungen mit meiner eigenen Sensibilität, und wie sie sich lange Zeit über als vermeintliches „Starksein“ getarnt und dahinter versteckt hat, mit euch teilen.
Ich bin ziemlich sensibel, und manchmal überrollt mich auch schon mal unerwartet eine heftigere Gefühlswelle, mitten im Alltag. Das muss nur ein kleiner Auslöser sein, der genau auf mich passt ─ und bumms, fühl ich mich wie ausgeknockt. Dann muss ich mir einfach eingestehen, dass ich eine ziemlich dünne Haut habe. Aber dass das so ist und zu mir gehört und auch überhaupt nicht schlimm, sondern nur vielleicht nicht unbedingt einfach ist, das wurde mir eigentlich erst recht spät bewusst.
Getarnte Sensibilität
─ die vermeintliche Stärke
Durch meine Kindheit, Jugend, jungen Erwachsenenjahre hinweg hatte ich eigentlich immer das Gefühl, recht taff und gut im Wegstecken zu sein. Mit »Gefühlsduselei« hab ich mich nicht lang aufgehalten. Was sicher auch nicht zuletzt daran lag, dass ich mich genau so verhalten musste, um all das verdrängen zu können, was mir so passiert war. Und es lag auch daran, dass ich es eben so gelernt hatte.
Als ich mit fast sechs Jahren von meinem Vater in unserer Küche gesagt bekam: »Die Mutti ist gestorben, wir müssen jetzt sehr stark sein!«, und wir, uns umarmend, eine Weile einfach so dastanden, da dachte ich mir: „Aha, jetzt geht es also darum, stark zu sein!“ Dieser eine Satz schwingt heute noch so präsent in mir nach, dass mir dabei bewusst wird, was Sätze, die wir hören, sagen oder für wahr halten, eigentlich auslösen können …
So entstand nämlich unmerklich und im Laufe der Zeit ein scheinbares Feld von Stärke um mich herum, wo doch eigentlich Gefühle der Trauer, stinknormales Traurigsein, Sich-verwundbar- und Allein-mit-alledem-Fühlen, Wut, Fassungslosigkeit und Überwältigt-Sein hingehört hätten. Und all diese Empfindungen und Gefühle waren auch da. Nur eben nicht an der Oberfläche. Sie brodelten in mir, waren jedoch für niemanden sichtbar, weil sie unter jener aufgesetzten Stärke schier erdrückt wurden, bis schließlich nicht mal ich selbst sie mehr fühlen ─ ja vielleichte gerade mal noch noch wittern konnte.
Was passiert, wenn wir unsere echten Gefühle verdrängen?
Indem ich mich im Starksein versuchte und mich auch ganz gut darin machte, verblasste meine natürliche Empfindsamkeit immer mehr. Ich kam in die Schule und war gut abgelenkt und beschäftigt. Meine Noten waren super.
Schließlich hatten wohl alle den Eindruck, ich stecke das gut weg. Und so ging es auch mir selbst. Perfekt bewältigt, könnte man meinen. Bis vor wenigen Jahren konnte ich wunderbar gelassen darüber sprechen, dass ich meine Mutter früh verloren habe und später dann, als ich zwölf war, auch noch mein Vater starb. Es war halt einfach so. Nur meine Zuhörer wurden dabei recht emotional, was mir unangenehm war, bis ich diesen Teil meiner Biografie dann schließlich eher wie runterleierte, wenn ich jemanden näher kennen lernte, um dann gleich zu etwas anderem überzuleiten.
Aber die Gedichte und Briefe, die ich damals schrieb, waren ziemlich düster. Sie sprachen eine andere Sprache. Irgendwie schimmerte es eben doch durch, dass es mir, ganz tief drinnen, nicht so gut ging, wie alle meinten, ich verstand nur nicht so recht, wieso.
Wenn man seine echten Gefühle intensiv verdrängt, dann nimmt man nicht mehr wahr, was einem gut tut oder nicht. Ich hatte den Kontakt zu mir selbst fast völlig verloren, wollte ein normales Mädchen sein, mit Freundinnen rumhängen, einen Freund haben ─ all das eben, was dazugehört. Aber ich wusste bei all dem einfach nicht, wohin mit mir und meinem Leben. Irgendwie fühlte ich mich oft wie abgeschnitten vom Rest der Welt. Anders. Ich mochte mich überhaupt nicht. War ständig unzufrieden mit mir und hatte immer ein paar schlechte Sätze für mich selbst auf Lager. Selbstkritik war an die Stelle von Selbstbewusstsein getreten. (Und tut es heute manchmal immer noch, wenn ich nicht aufpasse.)

Interessant ist: Es merkt einem gar keiner so stark an. Für die anderen bist du einfach, wie du bist. Und ich war ja auch recht unterhaltsam, auf meine Weise. Einfach nichts anmerken lassen … Später konnte ich sehr wohl auch ausgiebig feiern gehen. Es war unbewusst vor allem auch ein guter Weg, mich noch weiter von mir selbst zu entfernen, indem ich meine Gefühle betäubte.
Und doch gab es auch viele Momente, in denen ich einfach tief traurig in einem Zustand der gefühlten Bedeutungslosigkeit und Einsamkeit versank. Einsam mit mir, meinem So-und-irgendwie-anders-Sein, meiner inneren Leere und dem Leben an sich.
Rückkehr zur Empfindsamkeit, Rückkehr zum Leben
Und heute sage ich von mir, ich sei eine empfindsame Frau. Das ist ein mächtiger Schritt gewesen. Um mir dessen bewusst zu werden, habe ich viel an mir gearbeitet, wie man so sagt. Ich habe eine Therapie gemacht, alles wieder aufgewühlt, viel geweint ─ festgestellt, dass das auszuhalten ist, ja, man ertrinkt nicht in den eigenen Tränen! ─, Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung besucht, Aufstellungen gemacht ─ naja, alles, was mich eben irgendwie da rauszuholen versprach, wie einen Strohhalm geschnappt und mich daran festgehalten. Koste es, was es wolle!
Dabei ist im Laufe der Jahre ein Mensch zum Vorschein gekommen, den ich so noch nicht kannte. Eine kreative, mutige, hin und wieder traurige oder unsichere, sehr lebendige, empfindsame, auch manchmal wütende Frau, die ihr Leben absolut meistern kann, und zwar ohne dabei unbedingt stark sein zu müssen. Eine, die viel leistet, aber mittlerweile auch merkt, wenn es ihr zu viel wird. Eine die gern gibt, aber auch merkt, wenn andere zu viel von ihr nehmen wollen. Eine die sich traut, genau das auch zum Ausdruck zu bringen, auch auf die Gefahr hin, dann nicht mehr so gemocht zu werden. Und eine, die ziemlich viel spürt von dem, was andere beschäftigt, ihnen liegt oder sie belastet. Auch, was anderen weiterhelfen könnte. Dabei helfen Sensitivität und Intuition.
Jeder hat seine Themen, und ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, sie beim Schopfe zu packen. Vielleicht tut es anfangs ein bisschen weh, vielleicht macht es uns etwas wütend oder traurig, aber zumindest nehmen wir uns dann wahr, so, wie wir sind. Uns, die wir alle so viel mehr sind als nur die Personen, die das Leben aus uns gemacht hat!
Wenn ihr wissen wollt, wie ihr glücklicher und mehr ihr selbst werden könnt, dann ist das der Schlüssel:
Wahrnehmen, statt verdrängen.
Fühlen, statt stark sein.
Leben, statt gelebt werden.
Ich wünsche allen den Mut und die Kraft dafür, und den Schwung, es in Angriff zu nehmen!