Es gab wohl kaum eine intensivere Zeit in den letzten Jahren als die aktuelle. Von heute auf morgen ist fast nichts von dem mehr selbstverständlich, was uns jahrelang als Gewissheit erschien. Wie kann es sein, dass mir all dies unabänderlich vorkam? Die unzähligen immer gleichen Abläufe in meinem Leben? Sie gehörten einfach dazu, wie Waschen, Zähneputzen, Anziehen, Essen, Schlafen etc. Auf einer ganz basalen, eher unbewussten Ebene schenkten sie mir Halt, Orientierung und verliehen meinen Tagen Struktur. Diese Stabilität in mir wieder zu finden und zu etablieren – das ist nicht nur meine aktuelle Aufgabe, wie mir scheint. Dabei geht es für jeden von uns um Eigenverantwortlichkeit, innere Stärke, Nachsicht, die Kraft der Hoffnung und zugleich auch liebvolle Disziplin. Denn das „Neue Selbstverständliche“ kommt nicht mit einem Fingerschnips ums Eck.
Für mich war es natürlich, wie für viele hier in unserer westlichen Welt, völlig selbstverständlich, zur Arbeit zu gehen, mich auf den nächsten Urlaub zu freuen, die Kinder zur Schule und in den Kindergarten zu bringen, mir Kleider zu kaufen, wenn ich welche brauchte – in einem Geschäft, mit einer Verkäuferin, einer Kasse, Bargeld aus dem Portemonnaie, einer kleinen freundlichen Plauderei, einem richtigen Lächeln, das von Gesicht zu Gesicht flog und dort für einen Moment schöne Spuren hinterließ … Nicht immer war es mir möglich – aber doch erschien es mir selbstverständlich, ab und zu jemanden zu besuchen, Freunde einzuladen, jemanden spontan zum Kaffee rein zu bitten, mal übers Wochenende wegzufahren, Tapetenwechsel … Essen gehen. Ein Museum besuchen. Ein Konzert. Flohmärkte. Geburtstage feiern. … All das eben.
Wir alle sterben gerade kleine Tode.
Von so vielem haben wir uns abrupt (und auf unbestimmte Zeit) verabschieden müssen, ohne wirklich darauf vorbereitet gewesen zu sein. Wie auch? Man kann sagen, es kam über Nacht. Und mich zumindest hat es kalt erwischt!
Vielleicht geht es nur mir so, aber ist das nicht sonderbar ähnlich wie beim Verlust eines lieben Menschen durch den plötzlichen Tod? Für mich gibt es da viele Parallelen:
Bereits letztes Frühjahr erfasste mich eine eigenartige Traurigkeit – gepaart mit der Angst, wie denn nun alles weitergehen würde. Ich kämpfte innerlich dagegen an, wie es war, wollte es einfach nicht wahrhaben. Ich war wütend und zornig, dann wieder verletzlich und frustriert. Und am schlimmsten war dabei das Gefühl der Ohnmacht, das Gefühl, absolut nichts dagegen tun zu können. Ich trauerte tatsächlich, ohne dass ich das damals so hätte benennen können. Das war mir nicht bewusst.
Elisabeth Kübler-Ross, die sich Zeit ihres Lebens mit der Erforschung des Sterbens beschäftigte, beschrieb folgende fünf Phasen der Trauer:
- Nicht-Wahrhaben-Wollen
- Zorn
- Verhandeln
- Depressionen
- Zustimmung
An der Zustimmung arbeite ich noch, könnte man sagen. 😉
Diese Phasen müssen beim Trauern nicht unbedingt in dieser Reihenfolge durchlebt werden, manch einer lässt vielleicht auch mal eine oder zwei davon aus. Aber dennoch geben sie einen guten Einblick in das, was uns in der Trauer auf der Gefühlsebene begegnet. Das finde ich spannend. Denn so ging es mir, als Teile von mir wie gestorben sind.
Und da ich überzeugt davon bin, dass wir alle auf die eine oder andere Weise um etwas uns Liebgewordenes, Vertrautes aus der Zeit vor der Krise trauern und alle kleine Tode gestorben sind, dass wir Dinge vermissen und uns danach zurücksehnen (aber das Leben geht immer vorwärts!), scheint es mir mehr als sinnvoll, die Themen Abschied, Tod und Trauer mal etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Und das gerade jetzt, da wir uns damit konfrontiert sehen, dass ein Großteil der Menschen offenbar aus Angst vor dem Sterben bereit ist, ihre Lebendigkeit zu opfern!
Wir können uns selbst nicht länger aus dem Weg gehen.
Das ist die Lage, in der wir uns gerade befinden. Ablenkung ist rar geworden in diesen Tagen. Dass es dabei heiß hergeht, und immer wieder persönliche wunde Punkte aufblitzen, erstaunt eigentlich nicht. Nur, sind wir bereit, uns damit auseinanderzusetzen? Uns so zu sehen, wie wir sind, statt so, wie wir uns gerne hätten? Hinzuspüren und auszudrücken, wie es uns damit geht? Uns denen mitzuteilen und anzuvertrauen, die dafür offen sind? Und vielleicht sogar noch einen Schritt weiter zu gehen und unserer eigenen Endlichkeit ins Auge zu blicken? Sie zu akzeptieren, um mit neuem Lebensmut weiter machen zu können und noch einmal neu zu beginnen? Denn das Leben geht ja weiter, oder? 🙂
Warum das Sterben besser ist als sein Ruf!
Das Buch, das mich hierzu am meisten beeindruckt hat, ist Dr. Christopher Kerrs „Die Träume der Sterbenden“. Dieser wunderbar ehrliche und sympathische Hospizarzt zeigt, dass das Sterben zu unser aller Leben dazugehört, dass es vielen Sterbenden Hoffnung auf ein „Danach“ und Aussöhnung mit ungeklärten Lebensthemen bringt und dabei oft gar nicht so düster und grausam erlebt wird, wie wir gerne annehmen.
Dr. Kerr zeigt auch, dass es Zeit wird, eine Neue Medizin zu etablieren. Eine Medizin, die am Menschen und an dessen Bedürfnissen orientiert ist. Die geprägt ist, von einer wertschätzenden Hinwendung des Arztes zum Patienten – von Hinhören, Hinsehen und Hineinspüren in das, was dem jeweiligen Individuum wirklich hilft. Dazu braucht es Empathie und Offenheit und die Bereitschaft, sich aufeinander einzulassen und sich Zeit füreinander zu nehmen. Es geht um Nähe statt Distanz, um Mitmenschlichkeit und Wärme im Umgang miteinander statt Zweckrationalität und reiner Verarztung. Um Begegnung auf Augenhöhe und mit Herz und Verstand.